heute früh habe ich mich etwas durchs Forum gelesen und bin wieder mal erstaunt, wie viele schöne und aufmunternde Sachen ich sehen konnte.
Vergangenes Weihnachten war mein 10. suchtfreies Weihnachten. Wie ich die vergangenen Jahre Weihnachten gefeiert habe, weiss ich gar nicht mehr so genau - früher war ich nämlich ein garstiger Weihnachts-Hasser

Letztes Weiihnachten nun war ich wieder mal in Berlin, der Stadt, in der ich das Saufen lernte und auch mir meine Freiheit vom Suff wieder zurückerobert habe. Ich hatte mir einen Plan für jeden Tag gemacht, wen ich wann wiedersehen wollte und ich habe mich daran gehalten. (Plan und planen ist ein wichtiger Bestandteil meiner Trockenheit geworden.). Ich habe alte Freunde getroffen, die ich bereits vor meiner langen Trinkerzeit kannte, die mich also während aller drei Phasen kannten: vor, während und nach meiner Trinkerzeit.
Es waren schöne und bewegende Tage. Bewegend vor allem, weil ich in Berlin immer erkennen kann, wie ich mich seit meinem Leben ohne Alkohol verändert habe. Das dies nicht selbstverständlich ist und das ich mich daran auch nach über 10 Jahren ohne Alkohol immer wieder erinnere, gehört genauso zu meinen Bausteinen des Trockenbleibens, wie der tägliche Umgang mit der Sucht.
Besonders aber erwischt mich in Berlin immer wieder, wie schlimm, wie dunkel und wie trostlos mein Leben war. Natürlich bin ich an den Orten vorbei spaziert, an denen ich die schlimmsten Jahre meines Lebens verbracht habe. Auch das gehört für mich dazu - diese Orte ganz bewusst aufzusuchen. Ich erschaudere, mich fröstelt und es ist ziemlich einnehmend für den Augenblick. Aus diesem entsetzlichen Leben rausgekommen zu sein, ist nicht selbstverständlich, das erfahre ich bei jedem dieser mittlerweile sehr seltenen Berlin-Besuche.
Aufgefallen ist mir diesmal wieder, wie viele Freunde auf der Straße leben, unter den Brücken, in Hauseingängen und auch in den U-Bahnhöfen. Es war kurz nach dem Brand-Anschlag von jungen Ayslbewerbern auf einen obdachlosen Mann im U-Bahnhof Schönleinstraße in Neukölln, als ich genau dort vorbeikam - eine meiner alten Wohngegenden in Berlin. Dieser Anschlag hat mich tief bewegt, ich war fassungslos über die Brutalität gegenüber einem schwachen und hilflosen Menschen, der auch ich hätte sein können. Und noch wütender war ich, als ich später in den Überwachungsvideos der Polizei die lachenden und feixenden Täter nach Begehung der grausamen Tat sah.
Wie gefährlich Sucht ist und wohin sie führt, wissen wir alle. Wie gefährlich das Leben auf der Straße ist, wissen wir auch: Kälte, Feuchtigkeit, Entzug, körperliche Gebrechen, kein Selbsterwertgefühl, die Hartherzigkeit der Mitmenschen und so weiter. Aber wie niederträchtig ist es erst, einen Menschen anzuzünden, der besonders hilflos und am Ende ist. Ich habe mich selber angegriffen gefühlt, ich war entsetzt und ich war extrem wütend. Gottseidank wurden diese Menschen gefasst, die aus Not zu uns gekommen sind und unsere Hilfe zurecht verdienten. Mehr muss ich an dieser Stelle nicht sagen außer daß ich mich freue, daß der obdachlose Freund gerettet wurde. Über ihn selber wurde mir zu wenig berichtet: was macht er jetzt? Wie geht es ihm? Wurde ihm geholfen? Hat ihm diese grausame Tat zu Weihnachten am Ende etwas Gutes beschert?
Als ich zu Ende des Berlin-Besuches in meinen Zug nach Hause stieg, hatte ich nicht das Gefühl, meine ehemalige Heimat zu verlassen. Im Gegenteil - ich setzte mich hin und atmete tief durch. Im Zug gönnte ich mir ein Abendessen und ließ die Stadt an mir vorbeigleiten. Lange noch arbeitete in mir, was ich erlebt und gesehen hatte. Ich kann euch sagen: tiefe Dankbarkeit, das Gefühl der sich endlich eingestellten Ruhe und des inneren Friedens ist in mir. Das ist so wunderbar und kann ein Mensch, der niemals süchtig war, kaum verstehen. Wenn das nicht ein Vorteil der Sucht ist

Danke fürs Lesen!
Peter